Grußwort
aus der Schweiz
vom 09.Juni 2012 an die Protestkundgebung der S-Bahner und die Delegierten des Berliner SPD Landesparteitages
Liebe
Freunde und S-Bahner von Berlin, liebe SPD-Delegierte!
Es
sind ziemlich genau vier Jahre vergangen, seit sich die Bahnarbeiter
der SBB-Unterhaltswerkstätte in Bellinzona erfolgreich gegen
Umstrukturierungen und Privatisierung zur Wehr gesetzt und damit das
Unmögliche möglich gemacht haben. Gegen die Managerlogik von
Kostensenkungsprogrammen und Stellenabbau schien kein Kraut
gewachsen. Seit Jahren und Jahrzehnten fand eine schleichende
Deindustrialisierung statt, Betrieb um Betrieb wurde sang- und
klanglos abgewickelt und unschätzbare Werte vernichtet, die von
früheren Arbeitergenerationen geschaffen worden waren.
Es
war darum wie ein Blitz aus heiterem Himmel, als am Morgen des 7.
März 2008 die
über 400 Arbeiter der Officina von Bellinzona ihren obersten Chef am
Reden hinderten und mit Schimpf und Schande zum Teufel jagten. Dann
beschlossen sie sogleich den unbefristeten Streik und besetzten das
Werk. Einige Tage später erklärte der sozialdemokratische Verkehrsminister Leuenberger, die Regierung verstehe zwar die
Enttäuschung und Empörung der Betroffenen. Die Situation von
SBB-Cargo sei aber derart ernst, dass „Sanierungsmassnahmen
unausweichlich sind. Der Verzicht auf diese Maßnahmen würde die
Situation von SBB-Cargo massiv verschlechtern und das Überleben des
ganzen Unternehmens in Frage stellen.“
Einmal
mehr wurde also der Stellenabbau als unvermeidlicher Sachzwang und
der berechtigte
Widerstand dagegen als wirklichkeitsfremd hingestellt. Außerdem
erklärte SBB-Chef Andreas Meyer – ja, der gleiche Andreas Meyer,
der ein paar Jahre vorher als Geschäftsführer der DB Stadtverkehr
die Managementverantwortung für die S-Bahnen in Berlin und Hamburg
hatte, in dieser Funktion auch im Aufsichtsrat der S-Bahn Berlin saß
und eine führende Rolle bei der Planung und Umsetzung des
berüchtigten Programms «Optimierung S-Bahnen» (OSB) spielte –
dieser Andreas Meyer erklärte den Streik in Bellinzona für illegal
und drohte mit einer Schadenersatzklage von einer Viertelmillion
Franken pro Streiktag!
Die
streikenden Arbeiter liessen sich dadurch nicht einschüchtern und
hielten weiterhin das Werk besetzt. Auch in den Verhandlungen mit
der SBB-Spitze beharrten sie konsequent
auf der Rücknahme des Schliessungsentscheids. Als ihnen darauf die SBB-Direktion
mangelnde Kompromissbereitschaft vorwarf und den Kontakt zum Streikkomitee
abbrach, antworteten sie mit einer weiteren Massenmobilisierung.
Bellinzona erlebte die wohl größte Demonstration aller Zeiten: Mehr
als zehntausend Menschen
gingen auf die Straße und solidarisierten sich mit den Streikenden.
Nun redete
niemand mehr von einem illegalen Streik und von Schadenersatzklagen.
Der sozialdemokratische
Verkehrsminister legte seinen SBB-Chef an die kurze Leine und schlug
einen Runden Tisch vor, an dem die Konfliktparteien über die Zukunft
des Industriewerks Bellinzona verhandeln sollten. Der
Schliessungsentscheid war vom Tisch,
die scheinbar in Stein gemeißelten Sanierungsmaßnahmen hatten sich
als unnötig,
ja sogar unsinnig entpuppt und die Arbeiter hatten gesiegt.
Darum,
liebe Freunde und S-Bahner, liebe SPD-Delegierte, lasst euch nicht
beirren, wenn
man euch erzählt, die Ausschreibung der Berliner S-Bahn sei
unvermeidlich. Entscheide
sind nie unumstösslich, sie werden von Menschen gemacht und können daher
auch jederzeit rückgängig gemacht werden! Gesetze – auch
sogenanntes übergeordnetes,
europäisches Recht – bedürfen stets der Auslegung, die abhängig ist
vom Kräfteverhältnis zwischen den verschiedenen Interessengruppen.
Es gibt keine Sachzwänge, die nicht gewollt sind! Lassen wir uns
nicht länger Entscheide aufzwingen, die gegen die Interessen und
elementaren Bedürfnisse der ganzen Bevölkerung verstoßen! Die
Eisenbahn – auch die Berliner S-Bahn! – soll einzig der
Beförderung der ganzen Bevölkerung dienen und nicht den
Profitinteressen einer kleinen Minderheit!
Das
Chaos bei der Berliner S-Bahn ist allgemein bekannt, selbst die
Tageszeitungen in der Schweiz berichten immer wieder darüber. Ebenso
sind die Ursachen, die zu diesem Chaos geführt haben, ein offenes
Geheimnis und brauchen nicht weiter ausgeführt zu werden. Im Falle
einer Ausschreibung und Privatisierung würde dieses Chaos nicht
kleiner, sondern noch größer. Man braucht sich bloß an die
kriminelle Privatisierung der englischen Staatsbahnen zu erinnern.
Noch ist es nicht zu spät, eine solche Entwicklung zu verhindern! Es
liegt an Euch, liebe Freunde und S-Bahner, das Schicksal der Berliner
S-Bahn und damit auch euer eigenes in die Hand zu nehmen! Die Zukunft
der S-Bahn liegt in Euren Händen! Mit entschlossenem Handeln und der
Unterstützung der Bevölkerung im Rücken habt Ihr die Kraft, die
Aus -schreibung und Privatisierung der Berliner S-Bahn zu verhindern!
Vergesst dabei nicht die Erfahrung aller erfolgreichen
Arbeiterkämpfe: Die Beschäftigten sind nicht deshalb stark, weil
die öffentliche Meinung auf ihrer Seite steht. Vielmehr entdeckt die
Öffentlichkeit die Arbeiter und steht auf ihrer Seite, wenn diese
zuvor ihre eigene Stärke zum Ausdruck gebracht haben.
Die
Mächtigen in Politik und Wirtschaft reden der Öffentlichkeit ein,
es führe kein Weg
an der Teilausschreibung der Berliner S-Bahn vorbei. Wie die Dinge
heute stehen, wird es darum notwendig und unumgänglich sein, dass
die Berliner S-Bahn eine Zeitlang
überhaupt nicht mehr fährt, damit sie in Zukunft wieder regelmäßig
und zur Zufriedenheit
der Bevölkerung fahren kann, wie sie es jahrzehntelang getan hatte, bevor
sie von verantwortungslosen Managern kaputt gespart wurde! Rebellion
ist berechtigt! Widerstand dem System der Privatisierung,
Prekarisierung, Leiharbeit und Ausbeutung!
Niemand ist machtlos im Kampf gegen Ausbeutung und Unrecht! Es leben
die, die kämpfen!
Rainer Thomann vom Unterstützungskomitee „Officina Bellinzona“ und 'Netzwerk Arbeitskämpfe' - Schweiz
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